11. März 2025
Es ist warm als ich aufstehe. Der Kaffee steht schon für mich bereit, ich kann ihn im kurzen Piyama, einen langen habe ich nicht, geniessen. Auch Susanne hat nur ihr Nachthemd an, ein untrügliches Zeichen, dass wir heute für unsere Weiterreise mit besserem Wetter rechnen dürfen. Ich lass mir Zeit mit wach werden, während Susanne schon das halbe Zelt ausräumt und mit dem letzen Warmwasserjeton duschen geht. Sie ist bald zurück und macht den zweiten Kaffee. Sie wirkt etwas desorientiert. «Wa du?», frage ich sie in unserem Altehepaarslang. «Ich suche die Socken, dachte, ich hätte sie bereitgelegt», meint sie und beginnt damit, die restlichen Sachen aus dem Zelt zu befördern. «Komisch, ich kann sie nirgends finden», meint sie und ich höre einen Anflug von Verzweiflung aus ihrer Stimme. Mein Gott, wir haben ein ganzes Säckchen voll mit Socken, wo ist das Problem, denke ich bei mir. Sie entfernt sich vom Zelt, ich mag es nicht, unvermittelt alleine gelassen zu werden. «Wo gehst du hin?», will ich wissen. «Ich suche die Socken, vielleicht sind sie mir auf dem Weg zur Dusche heruntergefallen. Ich bring dann gleich noch Wasser für den nächsten Kaffee mit!» Okay, find ich vernünftig, die Sache mit dem Kaffee.
Unsere Nachbarin gesellt sich zu uns, mit ihrem Mann habe ich mich schon unterhalten. Sie kommen aus Deutschland und wohnen im Wohnwagen, eine Wohnung in der Heimat haben sie nicht mehr. Sie verbringen ihren Ruhestand im Süden Europas, Kroatien, Spanien und dieses Jahr in Sizilien. Das Wetter in Südeuropa war diesen Winter sehr schlecht und vor einigen Wochen hat ihnen ein Tornado das Vorzelt zerrissen und die Wellen des Meeres haben beinahe den Wohnwagen weggespült. Ich weiss das schon, ihr Mann hat’s mir erzählt. Wir wissen es nicht, aber wir vermuten, dass sie von der Rente in Deutschland nicht leben können, so wie niemand in der Schweiz von der Alters- und Hinterlassenenversicherung leben kann. Während unsere AHV kaum für die Wohnungsmiete reicht, könnten deutsche Staatsbürger damit in Deutschland vielleicht über die Runden kommen. Schweizer zieht’s dann nach Thailand, dort lässt sichs damit gut leben, auch in unseren Nachbarländern unter Umständen, nur zu Hause nicht. Ich denke darüber nach, wo die Scheisssocken hingekommen sind und verfluche meinen Mangel an Empathie. Bin ich ein Psychopath oder was?
Susanne und ich denken auch über unseren Ruhestand nach. Bis zum Erreichen des ordentlichen Rentenalters müsste ich noch neun Jahre arbeiten. Neun Jahre! Witz komm raus, du bist umzingelt! Der Ruhestand, besonders der Vorruhestand, will gut geplant sein, wenn man sich mit der Materie nicht auskennt und schlecht im Rechnen ist, ein schwieriges Unterfangen! Falls Sie eine Pensionskasse haben, bestimmt das Reglement der Kasse, wie und wann das Geld ausbezahlt wird. Falls Sie die Absicht haben, das ganze Geld abzuzügeln, müssen Sie das drei Jahre im Voraus anmelden. Wussten Sie das? Es gibt auch Pensionskassen, die Ihr Geld nur in Form von Rente ausbezahlen. Schon seltsam, es ist ihr Scheissgeld, aber frei darüber bestimmen können Sie nicht. Mir tun die abertausenden Landsleute leid, die ihr ganzes Leben geschuftet haben und nichts fürs Alter auf die Seite legen konnten und dafür dann noch steuerlich benachteiligt wurden, weil sie nicht die Mittel hatten, in die 3. Säule einzuzahlen! Sozialstaat, nennt sich das, Socken hin, Socken her!
Wir verabschieden uns und nehmen die Autobahnauffahrt, unsere Spur ist links, da gehts Richtung Catania, rechts nach Messina. Die linke Spur ist gesperrt, bleibt also nur die für uns falsche Richtung. Ich warte auf den «Bitte-wenden-Spruch» von Google Maps, der ist auf der Autobahn immer besonders witzig. Aber die App gibt sich keine Blösse, nach 14 Kilometern weist sie uns an, die Ausfahrt zu nehmen und lenkt uns von da auf die Autobahn in die Richtung, die wir vorgesehen hatten. Wir kommen an die Zahlstelle, wir müssen 90 Cents bezahlen. Ich habe die Kreditkarte in der Hand, aber Zahlungen mit der Plastikkarte sind nicht möglich. Ach was? Wir brauchen Bares, so so. Susanne steckt mir einen 50-Euro-Schein zu, den stecke ich ins Notenfach. Eine nigelnagelneue Note, der Automat spuckt sie umgehend wieder aus. Ich drehe den Schein und steck ihn wieder in den Schlitz, der Schein kommt postwendend wieder raus. Ich bleibe extrem cool und fluche was das Zeug hält. Zum Glück steht hinter uns niemand an, das würde den Stresspegel schlagartig erhöhen. Da klebt ein Papier am Automaten, aaaah, da steht etwas in italienischer Sprache. Oooh, mit 50-Euro-Scheinen kann man nicht bezahlen! Na toll! Die kleinen Scheine, die wir noch hatten, haben wir gestern für den 23-Euro-Wein hergegeben, verflucht und zugenäht! Verzweifelt werfen wir alles Münz in die Münzklappe, welches Susanne aus dem Portemonnaie klaubt, immerhin, 65 Cents! Die Barriere bleibt unten, ist das geil, es fehlen 25 Cents! Aber was ist das? Ein Hilfeknopf, gross und rot. Ich drücke drauf, blöd, der Knopf ist kaputt, den haben offensichtlich schon andere vor uns betätigt. Ich bin nahe dran auszusteigen und den Automaten zu treten, da fällt mir ein, ich hab zwei Euro im Sack, das Retourgeld vom teuren Wein, normalerweise lass ich die Münze als Trinkgeld liegen, aber gestern war mir das verständlicherweise zu blöd. Ich öffne den Gurt, um in meiner Jeans nach der Münze zu kramen, da ist sie, ich werfe sie ins Münzfach und bekomme Retourgeld für meinen Einsatz, herzallerliebst!
Auf der Autobahn fahre ich slalom, so wie Vreni Schneider in ihren berühmten zweiten Läufen. Sie wollte aufs Podest, ich umfahre die Schlaglöcher, die gibts hier auch auf der Autostrada. Nachdem wir an Catania vorbeigefahren sind, lichtet sich der Verkehr, der Himmel ist gelb gefärbt vom Saharastaub. Es ist spannend mit Verkehrsteilnehmern unterwegs zu sein, die ihren Fahrzeugausweis vornehmlich auf dem Flohmarkt erworben haben. In Sizilien gelten andere Regeln, du kannst locker mit 45 km/h über die Autobahn cruisen, wenn dir danach ist, nur einen Unfall solltest du tunlichst vermeiden, und wenn du doch in einen verwickelt bist, dann schau zu, dass du zu Hundert Prozent keine Schuld daran trägst! Ich folge einem Wohnmobil und hänge meinen Gedanken nach. Irgendwo müssten die Socken ja sein, Kruzifix! Es ist warm im Auto, und ich überlege, meine Socken auszuziehen und sie triumphierend Susanne zu überreichen. «Guchma, Schätzli, ich hab die Socken gefunden!» «Unsinn!», schimpf ich in Gedanken mit mir, die hattest du gestern schon beim Wandern an, die stinken wie die Hölle, jede Wette, dass sie darauf nicht hereinfällt.
Wir erreichen den «Flintstone Park», so heisst der Zeltplatz, nach gut 3 Stunden. Ein ausgesprochen hübscher Zeltplatz, die Sanitäranlagen sind schon beinahe luxuriös für unsere Verhältnisse. Wir haben einen schönen Platz unter Bäumen, auf einer grossen, gemähten Wiese, Zürcher und Luzerner als Nachbarn, was will man mehr. Wir stellen unser Zelt auf und räumen alles ordentlich ein. So schön! Wir könnten Pizzas bestellen, haben Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe und zum Meer sinds auch nur ein paar Schritte. Für heute sind alle Fragen geklärt. Bis auf eine: Wo, um alles in der Welt, sind die Socken?
